Gesicht für Gesicht
Vor seiner Promotion in New York absolvierte Giulio Salvati den Masterstudiengang in Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts in Jena. Auf lokaler Ebene hat der Historiker unter anderem über die Bombardierung Erdings sowie Zwangsarbeiter in der NS-Zeit im Landkreis geforscht und dazu eine Datenbank als digitales Denkmal aufgebaut. In der Süddeutschen Zeitung wurde er am 20. November 2020 über die Blickwinkel und Möglichkeiten der Lokalgeschichte interviewt. In einem Bericht für das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhundert beschreibt er nun seinen Weg von Jena in die USA und sein aktuelles Forschungsprojekt.
Als ich im Wintersemester 2012 damit begann den Masterstudiengang Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts an der FSU Jena zu studieren, war ich als Politikwissenschaftler noch neu in der Geschichtswissenschaft. Selten war ich so glücklich, als ich vor der ThULB meine erste korrigierte Hausarbeit zum italienischen Kolonialismus in den Händen hielt und das Wort „vorzüglich“ fiel. Es war das erste Mal. Ebenso war es ein Abenteuer mit den Kommiliton*innen Thüringen zu entdecken – angefangen in Lobeda und Winzerla. Bis heute frage ich mich, wie wir damals auf die Idee kamen, die neunstündige Serie „Shoah“ von Claude Lanzmann zusammen anzuschauen. Ob es am Einfluss des Jena Centers lag?
Außergewöhnliche Mentoren wie Prof. em. Jörg Nagler und Prof. Thomas Kroll ermutigten mich im Rahmen des Studiums mich auf ein Auslandsjahr an der University of California, Berkeley zu bewerben. Die kalifornische Sonne und die US-Archive halfen mir eine umfassende Masterarbeit zur Geschichte der Behandlung italienischer Kriegsgefangener in den USA zu verfassen. Durch die Diskussionen begriff ich erst, wie maßgeblich der italienische Bürgerkrieg 1943-1945 die Behandlung und die Erfahrung der Kriegsgefangenen beeinflusste. Während eine Gruppe der „Cooperators“ über große Freiheiten verfügte und de facto der US Armee gleichgestellt wurde, so stand den „Non-Cooperators“ ein hartes Regime bevor, welches an Härte sogar die gängige Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen übertraf.
Diese Erfahrung sollte das Sprungbrett zur weiteren akademischen Karriere darstellen. Zurück in Jena bereitete ich die Bewerbungsunterlagen vor, um mich 2016 für das Graduiertenprogramm an der New York University einzuschreiben. In den darauffolgenden Jahren nahm ich in den USA, Deutschland, Frankreich, Italien, VAE und sogar Moldawien an Tagungen, Seminare, Summerschools teil. Seit 2019 hat offiziell das PhD-Programm begonnen. Ziel ist es, die intellektuellen und personellen Traditionslinien zwischen der Kolonisierungpraxis in der Zwischenkriegszeit und der „Ansiedlung“ der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien sowie in Deutschland zu erforschen. Erneut steht ein Vergleich im Mittelpunkt und die Frage, inwieweit die Aufnahme der Flüchtlinge aus dem Sudetenland (Deutschland) sowie aus der östlichen Adria (Italien) im jeweiligen Land Maßstäbe für die Behandlung späterer Flüchtlingsgruppen gesetzt haben.
Der Aufenthalt in Jena liegt nun viele Jahre zurück, doch meine Jenaer Netzwerke stellen nach wie vor das Fundament dar, worauf ich meine lokale Tätigkeit als Kurator und Forscher aufbaue. In Zeiten von einer öffentlichen Verrohung und fehlender Empathie für NS-Opfer setze ich zusammen mit ehrenamtlichen Helfer*innen durch die Plattform www.erding-geschichte.de und zuletzt durch die Crowdfunding Kampagne „Gesicht für Gesicht“ ein Zeichen. Man könnte es Public oder Digital History nennen. Aber diese Form der Auseinandersetzung und die dazu notwendige Sensibilität hat mein Jahrgang im Sommersemester 2012 erlernt. Damals ließ Dr. Axel Doßmann Studierende auf die Archive und Denkmäler der Stadt Jena los. Heute gehe ich allein los, aber ich bin nicht alleine und das Ziel bleibt gleich.